Sächsischer Bürgerpreis 2017
Ansprache von Ministerpräsident Stanislaw Tillich zur Verleihung des Sächsischen Bürgerpreises am 16. Oktober 2017 in Dresden
Sehr geehrter Pfarrer Feydt,
sehr geehrte Frau Ostermann,
sehr geehrter Herr Dr. Brickwedde,
sehr geehrte Frau Kollegin Köpping,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren
Bürgermeister und Landräte,
sehr geehrte Damen und Herren Juroren,
sehr geehrte Damen und Herren Laudatoren,
sehr geehrte Nominierte,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich freue mich sehr, dass wir heute einmal mehr den Sächsischen Bürgerpreis verleihen können. Mein ausdrücklicher Dank für die gute Zusammenarbeit dabei geht neben der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank an die Stiftung Frauenkirche.
Schon die Kombination der beiden Worte Stiftung und Kirche macht deutlich, was dieses Bauwerk – das Stadt und Land prägt – ist: Ein Haus Gottes und eine Bürgerkirche. Sie ist zunächst und zuerst natürlich ein Ort des Gebetes und des Miteinanders für die evangelischen Christen in der sächsischen Landeskirche.
Sie ist aber in zweierlei Hinsicht auch eine Bürgerkirche. Zum einen ist sie immer wieder ein Raum der Identität und Heimat für Menschen aus Dresden und ganz Sachsen schafft – unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht. Und das in freudigen wie in traurigen Momenten.
Dazu gehören die Weihnachtskonzerte oder die Reden der Friedensnobelpreisträger. Ich erinnere mich aber auch an die Andacht nach dem schweren Busunglück im Sommer, als hier in der Unterkirche Menschen aus ganz Sachsen einander beistanden und gemeinsam trauerten.
Das war sehr bewegend und verbindend. Eine Stunde vorher fand oben in der Kirche eine Hochzeit statt – so eng liegen Freud und Leid zusammen. Sie ist aber auch Bürgerkirche, weil den Wiederaufbau Bürgerinnen und Bürger möglich gemacht haben. Und das nicht nur in Stadt und Land sondern um den Erdkreis herum engagierte man sich für Dresden.
Deshalb ist sie auch der richtige und ideale Ort, um den Sächsischen Bürgerpreis zu verleihen. Denn hinter den Preisträgern und Bewerbern stehen Menschen und Initiativen, die ebenfalls identitäts- und heimatstiftend wirken. Die sich ebenfalls engagieren und einbringen, weil sie Verantwortung spüren, die über ihr eigenes privates Umfeld hinausgeht.
Meine Damen und Herren, damit komme ich zu der Frage: Was macht einen Bürger aus? Was bedeutet es, Bürger zu sein? Denn bewusst heißt der Preis nicht Ehrenamtspreis, obwohl das bei Ihrem Engagement passend wäre. Er heißt Bürgerpreis. In Reden und im täglichen Gebrauch verwenden wir das Wort wie selbstverständlich: Vom Mitbürger bis zum Bürgerbüro. Dabei scheinen wir manchmal die Größe und Bedeutung des Bürger-seins zu vergessen. Eine Bürgergesellschaft ist historisch etwas sehr junges. Sie ist das Ergebnis von Revolutionen und unseren Erfahrungen mit Diktaturen. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir sie erhalten. Und dass wir sensibel sind, wenn sie gefährdet wird.
Am Anfang standen im 18. Jahrhundert die Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution. Den Unterschied finde ich bedeutend: Menschenrechte sind unteilbar und universell. Sie gelten für jeden: Egal ob Afrikaner oder Europäer, Einheimischer Dresdner oder Flüchtling aus Syrien. Die Bürgerrechte dagegen bilden sich vor allem im Verhältnis zum Staat, zum Vaterland aus. Am Anfang waren das vor allem Abwehr- und Schutzrechte gegenüber einem allmächtigen, absoluten Staat.
Seit 1949 in Westdeutschland und seit 1990 auch bei uns geht es aber um noch mehr. In der Demokratie geht die Macht von den Bürgern aus, Staatsgewalt ist geteilt und wird kontrolliert.
Bürgerrechte sind deshalb heute Abwehr- und Aktivierungsrechte. Sie gehen einher mit einem Engagement-Gebot für die Bürger. Anders gesagt, und das ist mir wichtig: Zu den Bürgerrechten kommen die Bürgerpflichten hinzu. Das demokratische Allgemeinwesen lebt davon, dass es von Bürgerinnen und Bürgern getragen und mitgestaltet wird. Deutschland kann ohne seine aktive Bürgergesellschaft als Nation und Staat nicht funktionieren. Und zu dieser Bürgergesellschaft gehören Sie alle und noch viel mehr in Sachsen. Diejenigen die heute ausgezeichnet werden stehen stellvertretend für die fast eine Million Sachsen, die sich in auf ganz vielfältige Weise einbringen.
Aus christlicher Überzeugung, sportlicher Begeisterung, humanistischem Engagement oder Liebe zur Heimat handeln sie nächstenliebend und ehrenamtlich für unsere Gesellschaft. Sie stehen damit für die große Kraft der Mitmenschlichkeit, die unser Land stark und zu einer guten Heimat macht. Es ist auch, so hoffe ich, für Sie selbst ein Gewinn. Denn durch die Begegnung mit anderen werden wir zu einem zufriedenen und glücklichen Menschen.
Hannah Arendt hat sich nach ihren Erfahrungen mit dem totalitären Regime der Nationalsozialisten mit den Bedingungen für ein gutes Zusammenleben intensiv beschäftigt. In ihrem Werk vom aktiven Leben beschreibt sie das, was Sie, meine Damen und Herren, tun, als eine »zweite Geburt«. Sie meint damit, dass das eigentlich Sinnstiftende und der Lebenszweck in unserer Welt darin besteht, zu erkennen, dass wir nicht allein auf Erden sind. Dass wir in der Pluralität, in der Tatsache, dass viele Menschen die Erde bevölkern, aufeinander zugehen müssen und miteinander handeln müssen.
Konkret wird das durch Ihr Engagement deutlich: Wenn Sportgruppen, Kirchgemeinden, Vereine oder Schulklassen sich öffnen und Räume schaffen, in denen Begegnungen stattfinden und man sich für das Allgemeinwohl engagiert.
Das geht auch ganz persönlich und privat, weil Einzelpersonen im wahrsten Sinne ihr Herz und Haus aufmachen, um für diejenigen da zu sein, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Meine Damen und Herren, Sie werden sich vielleicht wundern: Aber damit machen Sie alle auch Politik. Der Ursprung des Wortes liegt in der Polis – dem relativ kleinen, überschaubaren Raum einer griechischen Stadt in der Bürger die Verantwortung für das Allgemeinwesen übernehmen. Und auch Sie gestalten mit Ihrem Einsatz, Ihrem ehrenamtlichen Wirken eine Polis – einen Gemeinschaftsraum von Menschen. Damit leisten Sie zwei ganz wichtige Dinge.
Erstens: Sie entlasten den Staat, der all die Wünsche, die an ihn gerichtet werden gar nicht erfüllen kann. Er sollte sie aus meiner Sicht auch nicht alle erfüllen. Denn das würde zu einer Entmündigung, ja einer Passivität der Bürger führen. Der Staat muss ihnen das bieten, was für ein gutes, sicheres Leben wichtig ist: Dazu gehören ausreichend Polizisten auf der Straße, genug Lehrer in den Klassenzimmern und eine gute medizinische Versorgung in allen Lebenslagen und Landesteilen. Er muss auch immer ein verlässlicher Partner für Wissenschaft und Wirtschaft sein. Und Bürgerinnen und Bürger dort unterstützen, wo sie Hilfe brauchen.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist mit Ihrem Engagement verbunden: Sie helfen den sozialen Frieden zu sichern, der für die Stabilität des Landes existenziell ist. Gerade in unserer globalen Gesellschaft sind soziale Ankerpunkte und Anlaufstellen ganz wichtig. Sie sind ein Stück gelebte Heimat und Sicherheit!
Meine Damen und Herren, seit vielen Jahren erleben wir eine abnehmende Akzeptanz unserer repräsentativen Demokratie und ihrer Parteien. Projekte und Proteste ersetzen das langfristige Engagement und die politische Beteiligung. Statt in einem Verein oder einer Ortsgruppe zu diskutieren, wird vom heimatlichen Wohnzimmer die eigene Meinung in den immer gleichen Resonanzraum gestellt – wo es meist nur die eine Meinung gibt und es an Toleranz mangelt.
Darin sehe ich eine Gefahr. Unsere Gesellschaft lebt vom aufeinander zugehen und miteinander reden. Dazu braucht es neben der Einsatzbereitschaft auch ausreichend Liberalität: Ich muss mich auf den anderen mit seinen Eigenarten und Ideen einlassen. Wie ich das auch für meine Standpunkte erwarten kann.
Heute Abend ist wieder ein Anlass, um trotz der Herausforderungen, vor denen eine freiheitliche Gesellschaft steht, optimistisch in die Zukunft zu sehen. Und das verdanke ich und verdanken wir Ihnen. Sie leben täglich mit scheinbar großer Selbstverständlichkeit, was unser Land und das Zusammenleben stark, friedlich und gerechter macht.
Wie sagte es der Aufklärer der Französischen Revolution, Rousseau: »Der Citoyen ist ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt. Dieses gemeinsame Interesse beschränkt sich nicht auf die Summe der einzelnen Willensäußerungen, sondern geht über sie hinaus.« Sie sind Bürgerinnen und Bürger im besten Sinne! Sie sind – ob Sie heute ausgezeichnet werden oder nicht – preiswürdig.
Herzlichen Dank.