30.05.2016

Ansprache von Ministerpräsident Stanislaw Tillich zur Eröffnung der Demokratiekonferenz am 30. Mai 2016 in Dresden

– Es gilt das gesprochene Wort –

Ich danke Ihnen, dass Sie der Einladung zur Demokratiekonferenz gefolgt sind. Diese Konferenz ist mir ein persönliches Anliegen und ich freue mich, dass wir sie heute gemeinsam mit unseren Schweizer Kollegen ausrichten.

1990 war unser Land euphorisch: Wir waren frei und hatten demokratische Rechte errungen. Und wir nutzten sie! In Ostdeutschland und Osteuropa wussten die Menschen, wie wertvoll diese Demokratie ist, die ihren Namen verdient.

Eine Demokratie, in der jede Stimme gleich viel und wirklich etwas zählt. In der jeder die Regierung offen kritisieren und in der ein Kanzler der Einheit sein Amt bei einer Wahl verlieren kann.

Eine Demokratie, in der die Justiz unabhängig ist und politische Entscheidungen korrigieren kann. Die auf dem Grundgesetz aufbaut, das vor allem die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat betont. Unser Grundgesetz macht klar: Die Macht ist beim Volk.

Eine Demokratie, in der die Medien nicht gelenkt sind, sondern frei berichten und kritisieren können. Sie transportieren nicht die Meinung der einen Partei, sondern sind im besten Fall redliche Mittler zwischen Politik und Wählerinnen und Wählern.

Eine Demokratie, in der es nicht ein unveränderbares »die da oben und wir hier unten« gibt. Sondern in der wir alle in einem Boot sitzen und ein Bürger, der etwas besser machen will, Bürgermeister werden kann, das Ruder übernehmen kann.

Wer Diktatur in der DDR oder noch unter dem NS-Regime erlebt hat, der weiß: Das alles ist keine Selbstverständlichkeit. Wer Diktatur erlebt hat, weiß: Demokratie ist ein Wert für sich.

Um diesen Wert mache ich mir Sorgen. Ich habe es bereits zum 25-jährigen Jubiläum unseres Landtages gesagt: Die Verletzlichkeit der Demokratie muss uns alle mahnen.

25 Jahre Einheit heißt auch, dass sich für einige Menschen die Hoffnungen von 1990 nicht erfüllt haben. Dass ihre Vorstellungen von Demokratie enttäuscht wurden. Auch, weil Demokratie viel Selbstverantwortung, Engagement erfordert.

Politik als praktische Form der Demokratie wird verantwortlich gemacht, für persönliche Schicksale wie für eine gefühlte oder tatsächliche Ungerechtigkeit. Und im Westen wie im Osten schwindet das Vertrauen in die Politik.

Zudem wachsen Generationen heran, die die Diktatur nur noch aus Erzählungen kennen. Für sie ist Demokratie ein Teil der Grundversorgung wie Nahrung und Nahverkehr.

Die Zustimmung zur Idee der Demokratie ist immer noch hoch. Und selbst eine geringe Wahlbeteiligung oder geschwächte Parteien, wie wir sie seit Jahren erleben, sind noch nicht das Ende der Demokratie.

Aber die Kritik an den Ergebnissen unserer Demokratie und vor allem die Kritik an den Akteuren der repräsentativen Demokratie sind deutlich. Darauf müssen wir reagieren.

Wenn die Freunde der Demokratie schwächer werden,
dann werden die Feinde der Demokratie stärker.

Nun wird Demokratie nicht einfach abgewählt. Aber sie kann über Nacht verschwinden. Eine demokratische Wahl kann die letzte sein, wenn die Gewählten die Demokratie beseitigen.

Deshalb muss uns wachsam machen, dass die demokratische Teilhabe oder wenigstens die Zustimmung zur repräsentativen Demokratie in einem zu großen Teil der Bevölkerung einzuschlafen droht. Dann könnten Kräfte erwachen, die unsere Freiheit, unseren Wohlstand, unsere Sicherheit gefährden.

Deshalb gilt es, unsere Form der Demokratie im wörtlichen Sinne populär zu machen:
Wir müssen die Demokratie beim Volk wieder beliebt machen.
Das wird nicht einfach. Denn Demokratie ist nicht einfach.

Demokratie mutet uns etwas zu: Ich muss aushalten, dass ich nicht immer Recht habe oder Recht bekomme. Ich kann zwar laut sein oder gute Argumente haben, aber in der Minderheit bleiben, eine Wahl auch knapp verlieren.

Entscheidend ist: Nur die Demokratie gibt mir die Chance, das zu ändern. Nur in der Demokratie habe ich die Möglichkeit, für meine Überzeugungen eine Mehrheit zu gewinnen.
Deshalb ist es unsere erste Aufgabe, denjenigen, die heute mit der demokratischen Ordnung hadern, zu sagen: Glaubt nicht falschen Versprechungen und populistischen Antworten.

Sondern: Ja, Demokratie ist anstrengend und repräsentative Demokratie ist auch manchmal schwierig und langwierig. Aber: Sie steht euch offen. Sie lädt auf verschiedene Art zur Beteiligung ein. Demokratie eröffnet Räume, in denen frei gesprochen und zugehört wird.

Es geht also darum, neues Vertrauen aufzubauen. Vertrauen in demokratische Strukturen und Akteure. Dazu gehört, dass wir in der Politik unsere eingeübten Rituale überdenken und immer wieder in den Dialog gehen müssen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch,
dass sich die Verwaltung ihrer politischen Wirkung und die Medien ihrer politischen Verantwortung bewusst sind.

Und dazu gehört: Wer etwas ändern will, wer sich beteiligen will, der muss mitmachen. Der muss sich auf den Dialog einlassen: Also das Reden und Zuhören, das Überzeugen und überzeugt werden. Der muss andere Meinungen aushalten. Und er braucht oft Geduld, bis die Mehrheit eine Meinung mitträgt. Aber nur so können wir unsere Gesellschaft friedlich und erfolgreich gestalten.

Wir sind heute ein Forum der Demokratie: Vertreter der Regierung und des Parlaments,
der Städte und Gemeinden, der politischen Bildung, der Wissenschaft,
der Verwaltung und der Zivilgesellschaft. Engagierte Demokraten aus allen Generationen
– Schülervertreter genauso wie Seniorenbeiräte – und aus allen Regionen Sachsens.

Sie wirken in den vielfältigen Formen der politischen Beteiligung mit, die es bei uns im Freistaat und in unseren Städten und Gemeinden gibt, und die oft noch viel zu wenig bekannt sind. Lassen Sie uns deshalb heute darüber beraten, wie wir mehr Menschen zum Mitmachen bewegen können. Und wie wir diese Beteiligungsformen bekannter machen, weiterentwickeln und ausbauen können.

Und lassen Sie uns dabei auch den Blick über Sachsen hinaus richten – in andere Bundesländer, in die Schweiz und nach Österreich – und dabei schauen, welche guten Ideen und Projekte wir auch hier in Sachsen, in unseren Städten und Gemeinden erproben könnten.

Ich freue mich sehr, dass wir diese Konferenz gemeinsam mit dem Schweizer Kanton Aargau ausrichten können. Im vergangenen Jahr habe ich den Kanton und das Zentrum für Demokratie in Aarau besucht und viele interessante Gespräche geführt. Heute setzen wir den Austausch fort.

Vielfältige Demokratie: das  ist das Thema des heutigen Vormittags. Wir wollen uns zu Herausforderungen und Perspektiven der Demokratie in Deutschland und der Schweiz austauschen. Gerade weil unsere politischen Systeme so unterschiedlich sind, glaube ich, dass wir viel voneinander lernen können. Jedes unserer beiden Länder hat seine eigene Geschichte, seine eigene politische Kultur und seine eigenen Traditionen.

Deutschland hat sich mit der repräsentativen Demokratie, wie sie im Grundgesetz und auch in unserer Sächsischen Verfassung verankert ist, sehr gut entwickelt. Wir leben seit langem in Frieden, Freiheit, Stabilität und Wohlstand.
Aber wir stehen auch vor Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Dazu gehört, unsere Demokratie lebendiger zu gestalten, die Menschen wieder stärker für politische Beteiligung zu gewinnen und das Miteinander in unserer Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken.

Die Sächsische Staatsregierung hat dazu schon eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Erfolgreich können wir aber nur sein, wenn alle gesellschaftlichen Akteure daran mitwirken.

Der Ausgangspunkt unserer Demokratie liegt vor Ort: in unseren Städten und Gemeinden. Hier gibt es viele engagierte Bürger und viele interessante Projekte der politischen Beteiligung, über die wir heute Nachmittag mehr erfahren werden.

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Findeiß, vielen Dank, dass Sie heute zu uns gekommen sind und uns Näheres über die Aktivitäten in Ihrer Stadt berichten werden! Und ich möchte Ihnen heute auch dafür danken, dass Sie vor Ort Verantwortung übernehmen und für unsere Werte eintreten – stellvertretend für die vielen engagierten Demokraten in unserem Land. Sie haben es in diesen Tagen nicht immer leicht. Zu einer lebendigen Demokratie gehört Kritik, und politische Auseinandersetzungen werden in der Sache manchmal hart geführt. Aber leider erleben wir auch, dass Menschen Grenzen überschreiten und ihrer Meinung mit Aggressivität und Drohungen Nachdruck verleihen wollen. Hier müssen wir uns als Demokraten entschieden dagegen stellen!

In der Schweiz hat die direkte Demokratie eine große Tradition. Und auch in unserer sächsischen Verfassung ist direkte Demokratie durch die Volksgesetzgebung verankert.

Aber ich will es ganz klar formulieren: Direkte Demokratie allein ist für mich kein Allheilmittel gegen die Unzufriedenheit mit unserem politischen System.Ich meine: wir müssen zu allererst unsere demokratische Kultur und die Dialogbereitschaft stärken.

Manch einer glaubt, dass es einen klar erkennbaren Gegensatz zwischen »der Politik« und »dem Volk« gibt. Und dass wir all unsere Probleme lösen könnten, wenn »das Volk« alles direkt entscheiden würde. Für mich ist das viel zu einfach gedacht. Wir erleben es jeden Tag: sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung gibt es ganz unterschiedliche Meinungen und Interessen.

Das hat sich bei den Dialogforen gezeigt, die wir als Staatsregierung im vergangenen Jahr durchgeführt haben, und auch beim Bürgerkompass Sachsen, zu dem ich vor einigen Jahren eingeladen hatte. Bevor es in die Gesprächsrunde mit den Politikern ging, haben die Bürger zunächst untereinander über aktuelle Themen diskutiert.

Sie haben schnell festgestellt, dass auch sie ganz unterschiedliche Sichtweisen haben, und wie schwierig es sein kann, Kompromisse und Mehrheiten zu finden. Diese unterschiedlichen Sichtweisen zusammenzuführen, das ist die Aufgabe unserer repräsentativen Demokratie. An erster Stelle steht dabei, einander zuzuhören
und auf die Argumente des Anderen einzugehen. Und dann: Kompromisse einzugehen
und auch Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren.

Und hier sehe ich die Gefahr, dass wir als Gesellschaft die Fähigkeit zum Zuhören und auch zum Perspektivwechsel verlieren. Ich meine auch: die Fähigkeit zur Empathie. Dazu scheint ausgerechnet das Internet beizutragen, dass uns doch so viele Chancen und neue Möglichkeiten eröffnet.
Möglichkeiten, die auch wir als Staatsregierung nutzen, zum Beispiel mit dem Beteiligungsportal »bürgerbeteiligung.sachsen.de«.

Aber es gibt auch Entwicklungen, die mich nachdenklich stimmen. Eine davon ist die Herausbildung von sogenannten »Echoräumen«. Das sind virtuelle Räume, digitale Plattformen und Netzwerke, in denen ausschließlich Menschen mit einer bestimmten Weltsicht zusammenfinden. Sie gehen Menschen mit anderen Perspektiven und Sichtweisen aus dem Weg und bestärken sich gegenseitig in ihren vorgefassten Meinungen. Das führt dazu, dass sie nur noch ihre eigenen Ansichten als Echo hören – und fest daran glauben, in der Mehrheit zu sein. Für eine offene Gesellschaft und für den demokratischen Diskurs ist eine solche Entwicklung bedenklich. Wer sich nur noch in geschlossenen Weltbildern bewegt, verliert die Fähigkeit zum offenen Dialog. Er ist nicht mehr erreichbar für neue, überraschende und alternative Sichtweisen.

Deshalb müssen wir die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Dialog in unserer Gesellschaft wieder stärken. Wie uns das in einer digitalisierten Welt gelingen kann, auch darüber wollen wir heute Nachmittag beraten und Perspektiven aus Deutschland und aus der Schweiz kennenlernen.

Zugegeben: es wäre sehr praktisch, aber ich glaube nicht, dass wir Lösungen »auf Knopfdruck« finden werden. Gute Politik braucht Zeit: Zeit zum Nachdenken, zum Reflektieren, zum Diskutieren. Zeit, die uns in unserer beschleunigten Welt leider nicht immer zur Verfügung steht. Aber manchmal ist es wichtig, dass wir uns einfach die Zeit nehmen. So wie heute auf dieser Konferenz.

Denn auch die Weiterentwicklung unserer Demokratie braucht Zeit. Doch ich bin davon überzeugt, dass wir auch mit kleinen Schritten viel erreichen werden. Und dass unsere Demokratie der beste Garant dafür ist, unser Land in eine gute Zukunft zu führen.

Eine repräsentative Demokratie, in der Parlamente und Parteien weiter eine zentrale Rolle spielen. Eine lebendige Demokratie, in der die Bürger jederzeit aktiv und engagiert mitgestalten. Und eine vielfältige Demokratie, in der wir einander zuhören und offen für neue Perspektiven sind.

Nehmen wir also die Herausforderungen an: verteidigen wir unsere Werte, stärken wir unsere Demokratie und fördern wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft!

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