30.12.2016

Ministerpräsident Stanislaw Tillich zieht im Interview mit der dpa Bilanz

Das Jahr 2016 - Ministerpräsident Stanislaw Tillich zieht im Interview mit der dpa Bilanz

War 2016 ein gutes Jahr für Sachsen?

Das war ein ganz schweres Jahr nicht nur für Sachsen, sondern für ganz Deutschland. Wir mussten Aufgaben bewältigen, die uns sehr gefordert haben. Nicht nur organisatorisch-finanziell, sondern auch emotional. Das Jahr hat aber auch gezeigt, zu was Deutschland in der Lage ist. Wer sich Fakten wie Arbeitsplätze und Wachstum anschaut, wird 2016 als gutes Jahr in Erinnerung behalten. Mit Blick auf Europa, den Brexit und das Erstarken des Populismus war es ein schwieriges Jahr. In Sachsen haben wir ein Jahr mit Licht und Schatten erlebt. Der Schatten hat die Wahrnehmung dominiert. Ich wünsche mir, dass das Licht wieder stärker wird. Ich wünsche mir, dass man von Sachsen das wahrnimmt, was die übergroße Mehrheit leistet. Die Sachsen sind bereit, sich zu verändern. Sie sind selbstbewusst. Wir haben vieles, was wir vorzeigen und worauf wir stolz sein können.

Es gab viel Kritik, auch vom Sachsen-Bashing war die Rede. War das berechtigt?

In der Pauschalität war das nicht angemessen. Weil es eine Vielzahl von Menschen in diesem Land gibt, die sich einerseits dafür einsetzen, dass Staat und Gesellschaft funktionieren und die sich andererseits darum gekümmert haben, dass die Flüchtlinge bei uns aufgenommen werden. Es ist richtig: Es hat bei uns eine hässliche Minderheit gegeben, die diesen Ruf und Fleiß der Mehrheit der Sachsen in den Dreck gezogen hat. Es ist eine bittere Lehre des Jahres 2016, dass wir so etwas in unserem Land haben.

Sie waren 2016 auch als Bundesratspräsident viel unterwegs. Angesichts der Kritik war es sicher nicht immer leicht, Sachsen als Ministerpräsident zu vertreten. Wurden sie oft danach gefragt?

Das hätte man eigentlich erwarten können, aber nur in seltenen Fällen war es der Fall. Wir haben eine Situation, die sich nicht auf Sachsen und Deutschland allein beschränkt. Überall in der Welt und überall in Europa hat die Anzahl der Populisten zugenommen.

Die Bürger haben Europa in den vergangenen Monaten nicht als besonders handlungsfähig und einig wahrgenommen. Sie haben gespürt, welche Auswirkungen es hat, wenn eine Schengen-Grenze nicht sicher ist, und welche Folgen das für alle hat.

Der Populismus scheint im Osten stärker ausgeprägt. Hängt das auch damit zusammen, dass die ostdeutsche Befindlichkeit im Westen falsch wahrgenommen wird?

Wenn die AfD nur ein ostdeutsches Problem wäre, dürfte sie in Baden-Württemberg nicht so stark sein. Denn dort ist aus unserer Sicht noch alles Gold, was glänzt. Deutschlandweit gibt es eine Unzufriedenheit mit der augenblicklichen Situation - in der Gesellschaft, in der Politik, in der Wirtschaft, die in Wahlumfragen zum Ausdruck kommt.

Obwohl laut Umfragen nur sehr wenige Menschen der AfD wirklich die Lösung von Problemen zutraut, befinden sich ihre Zustimmungswerte im Höhenflug. Ist Lösungskompetenz vielleicht gar nicht mehr gefragt?

Die Zahlen drücken einen Frust aus, Protest. Wir haben in der Vergangenheit die schwindende Wahlbeteiligung kritisiert. Viele haben sich entschieden: Sie wählen jetzt nicht mehr die Volksparteien, sondern stellen ihnen einen Denkzettel aus. Dahinter steckt die Botschaft: Ihr müsst Euch ändern. Ich bin überzeugt davon, dass es unter den Protestwählern viele Menschen gibt, die man für die Volksparteien zurückgewinnen kann.

Was wollen Sie tun, um diese Menschen zu erreichen?

Wir wollen nicht nur die Bürgerdialoge in Städten wie Dresden, Chemnitz und Leipzig weiterführen, sondern auch in die Regionen gehen. Wir möchten mit den verschiedensten Gruppen ins Gespräch kommen und das aufnehmen, was sie bewegt. Ich bin überzeugt, das sind nicht immer die großen Dinge dieser Welt, sondern viele Kleinigkeiten, die die Menschen ärgern. Jeder von uns, der politische Verantwortung trägt, jeder Minister, muss diese Möglichkeit der Diskurse wahrnehmen.

 

Das Gespräch führte Martin Fischer, dpa

zurück zum Seitenanfang